Christus überhaupt nichts vorziehen

Christusnachfolge ist meine Antwort auf einen Ruf, der mein Leben von Anfang an mit dieser einen und einzigartigen Grundmelodie durchdringt: „Komm!“

Gott  hat mich liebend erschaffen zu Seinem Bild, kostbar bin ich in Gottes Augen. In Jesus Christus, Seinem Menschensohn verwandelt sich das Antlitz eines unsichtbaren Gottes in ein menschliches Gesicht – und da sind  Augen, die mich sehen, und Worte, die mich rufen: „Komm!“

 Vor 21 Jahren bin ich in die Communität Casteller Ring auf dem Schwanberg/Unterfranken eingetreten. Damals wie heute stellen wir an eine junge Anwärterin, die um Aufnahme in die Gemeinschaft bittet, die klassische Frage aus der klösterlichen Tradition: „Was begehrst du?“ Die Antwort der Postulantin lautet: „Die Barmherzigkeit Gottes und die Gemeinschaft der Schwestern.“ Das ist mir geblieben auf dem Weg unserer Gottsuche: Ich ersehne, ja begehre Gottes Barmherzigkeit in Seinem menschgewordenen Ebenbild Jesus Christus. Darin bleibe ich unterwegs mit meinen Mitschwestern. Wir haben einander und Gott das Bleiben versprochen. Wir bleiben Suchende und haben das gleiche Ziel: Wir pilgern Gott suchend gemeinsam im Schweigen, im gesungenen Gebet und im Sakrament. Da wohnt Gott darinnen, dafür will ich mein Herz weit werden lassen. Ich entdecke Gottes Gegenwart in meinen Schwestern und in der Begegnung mit unseren Gästen, den erwarteten und den ungebetenen. Wir binden uns in der feierlichen Profess auf Lebenszeit an unsere Gemeinschaft in ihrer benediktinisch geprägten Lebensform. Das erlebe ich als eine weite, herrliche Freiheit. Ich werde eingeladen vom Meister selbst, der seine Jüngerinnen und Jünger ruft, sie lehrt und  begleitet. „Rabbuni“ darf ich ihn nennen und erfahren, wie das Leben im Heute, mitten im Reich Gottes gelingt.

 „Der Liebe zu Christus nichts vorziehen“, gibt der Ordensgründer Benedikt seinen Mönchen als geistliches Werkzeug an die Hand (Regula Benedicti 4, 21) Das ist nicht mein Wollen, sondern meine Antwort auf die Erfahrung Seiner lebendigen Gegenwart. Was ich mir als Jugendliche nicht vorstellen konnte, erlebe ich heute: in der Bindung erfahre ich Zugehörigkeit und in der Gottsuche weite Freiheit. Ich bin geborgen in einer unzerstörbaren Beziehung der Liebe und darf hinauswachsen über meine Grenzen.

Von Mutterleib an trage ich ja in mir das unverlierbare Wissen um Zugehörigkeit, in der ich geborgen bin. Ein Leben lang sehne ich mich danach zurück. Wir bauen Tempel und Kirchen für unseren Gott, malen Bilder vom Paradies und erzählen uns gleichzeitig, dass es völlig utopisch sei, daran zu glauben. Das Kind in uns weiß um diese Wirklichkeit – lange vor der Zeit der Worte. Das gehört zu unserem Menschsein: Zugehörig-Sein. Wir suchen und finden es wieder in Partnerschaft, Familie oder unseren Gemeinschaften, erfahren es im Erinnern an Orte und nennen es Heimat. Wir schaffen uns mit Worten und Liedern ein geistiges Zuhause und erfahren in Zeiten der Einsamkeit, wie wunderbar getröstet wir darinnen sind. Mein Suchen nach dem Sinn des Lebens erfahre ich Schritt für Schritt, Tag um Tag.

 Gleichzeitig geht Jesus Christus mir voraus, lockt und fordert mich heraus aus Enge und Angst, aus vermeintlichen Sicherheiten und alten Verstrickungen. Gott, der Ewige, führt Sein Volk in die Freiheit. Jesus Christus geht mir voran in das Haus des Vaters, den Ort meiner tiefsten Zugehörigkeit. Dort bin ich zu Hause, das ist meine Heimat, aus der ich geboren wurde, und ich wusste es nicht.

Ganz nah aber ist Gottes Wort, ganz nah sein Erbarmen. Das höre ich im biblischen Wort, Petrus weiß es und bekennt es laut: „ Du hast Worte des ewigen Lebens; und wir haben geglaubt und erkannt: Du bist der Heilige Gottes.“ (Joh 6,68)

Es ist gut darum zu wissen. Das ist genug für jeden einzelnen Tag im Heute Gottes, in der Spur des Einen, der uns vorausgeht und entgegenkommt, der in uns lebt und liebt: Jesus, der Christus, mein Herr und mein Gott.

Priorin Immanuela Friederike Popp, Communität Casteller Ring