Grenzen setzen


1 Kor 6,12
Alles ist mir erlaubt - aber nicht alles nützt mir. Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich

Unsere Welt ist in vieler Hinsicht grenzenlos geworden: Wir sind ungeheuer mobil und machen Reisen, von denen Menschen anderer Zeiten nur träumen konnten. Unsere Kommunikation ist aufgrund der modernen Medien nicht mehr durch Raum und Zeit begrenzt, eine Email ist in Tokio genauso schnell wie im Nachbarhaus. Unser Wissen ist nicht mehr durch unsere Schulbildung oder durch die uns zugänglichen Bücher und Zeitschriften begrenzt, da uns im Internet eine fast unendliche Menge an Informationen zur Verfügung steht.
Aber diese Grenzenlosigkeit hat als Kehrseite, dass wir mit Informationen, Angeboten, Appellen überflutet werden: Wir sollen uns auf allen möglichen Gebieten fortbilden, uns für den Regierungswechsel in Tadschikistan und den Skandal in Irland interessieren, eine Meinung zu jeder kirchlichen und politischen Frage haben, Kurzurlaub in Paris machen, Kontakte pflegen, uns mehr bewegen, regelmäßig den Blutdruck messen, auf unseren Cholesterinspiegel achten - die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Ach ja, meditieren und innerlich ruhiger werden sollen wir möglichst auch noch. Nichts davon ist schlecht, aber die Fülle der Ansprüche führt zu Atemlosigkeit, denn immer gibt es noch mehr, noch anderes, noch Besseres.
Wahrscheinlich müssen wir, um in unserer Welt bestehen zu können, ziemlich radikal lernen, Grenzen zu setzen, nicht um unsere Freiheit zu beschneiden, sondern um uns Freiheit überhaupt erst zu ermöglichen und uns nicht in der Vielzahl der Ansprüche zu verlieren.
1.) Grenzen gegenüber Gedanken, Inhalten und Bildern. Dieses Grenzen-Setzen geschieht, wenn wir uns nicht von dem, was auf uns zukommt, bestimmen lassen, sondern bewusst Verantwortung für das übernehmen, was wir in unseren Geist aufnehmen. Bei der Fülle der visuellen und akustischen Reize, die ständig auf uns eindringen, müssen wir eine Kultur des Aussortierens entwickeln, die uns hilft, Herr über unsere innere Welt zu bleiben.
2.) Räumliche Grenzen. Wir Nonnen haben das in Form unserer Klausur, die für uns einen Bereich bildet, den andere normalerweise nicht betreten und der ganz von den Werten, die wir leben wollen, geprägt ist. Doch ich glaube, jeder Mensch braucht eine solche Klausur, einen Ort, wo er zuhause ist und zu dem andere nicht beliebig Zutritt haben. Jeder muss sich die Frage stellen: Wo bin ich zuhause? Was ist der Raum, in dem ich mein Leben verbringe und für den ich Verantwortung übernehme ? Was lasse ich in diesen meinen Lebensraum hinein, was soll draußen bleiben?
3.) Zeitliche Grenzen. Zeit ist Leben und Leben bedeutet Zeit haben, so dass ich, wenn ich Zeit einsetze, im Grunde mich selbst und mein Leben hergebe. Umso wichtiger ist die Frage: Wieviel Zeit investiere ich für was?,  denn sie bedeutet im Grunde die Frage: Was liebe ich? Wofür gebe ich mein Leben?  Zu dieser Grenzsetzung gehört es, Zeit nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ wahrzunehmen, d.h. Fast- und Feiertage, Arbeits- und Ruhetage, Sommer und Winter, Tag und Nacht, Jugend und Alter zu unterscheiden. Das ist, wie wir alle wissen, überhaupt nicht mehr selbstverständlich.
4.) Grenzen zwischen mir und dir. Der andere Mensch hat ein Recht auf meine Zuwendung, ja, wenn ich Christ bin, auf meine Liebe, aber er hat kein Recht darauf, mich „aufzufressen“. Ein Großteil unserer Energie wird im Austausch mit anderen Menschen verbraucht. Dabei gibt es Beziehungen, die uns neue Kraft geben, aber es gibt auch Beziehungen, die uns erschöpfen und auslaugen und in denen wir - um unserer selbst willen, aber auch um der anderen willen - Grenzen dessen, was wir geben können, aufzeigen müssen.
Grenzen zu setzen ist meiner Ansicht nach nur möglich, wenn man die eine große Grenze unseres Lebens, den Tod, bejaht. Das ist heute zunehmend schwierig für uns, und unsere Kultur ermöglicht uns diese Flucht. Doch im Evangelium wird der Mensch,  bei dem das Wort auf Fels fällt, (d.h. der Mensch der unfähig für die Aufnahme des Wortes Gottes ist), „Mensch für die Zeit“ oder „Mensch des Augenblicks“ genannt, und er wird beschrieben als einer, der keine Wurzeln hat (vgl. Mt 13,21). Genau das - Wurzellosigkeit und Leben im Augenblick, anders ausgedrückt: Raum–und Zeitlosigkeit -  wird unter dem Namen „Flexibilität“ heute geradezu als Wert proklamiert und führt bei vielen Menschen zu einem ständigen Wunsch nach Veränderung. Doch dabei ist keine Veränderung jemals wirklich radikal, man wechselt zwar Orte, Menschen und Aufgaben, setzt aber selten klare Schlusspunkte, denn aufgrund der Fülle gleichwertiger Anschlussmöglichkeiten wird Unfertigkeit zum Dauerzustand. Deutlich wird das, wenn Menschen ewig Student bleiben oder keine Beziehung jemals wirklich beenden, aber auch keine ganz verbindlich eingehen.
Jede echte Wahl ist Setzen einer Grenze, denn ich gebe vieles auf, was vielleicht auch erfüllend gewesen wäre. So bereite ich mich auf den Tod am Ende meines Lebens vor, denn auch dann werde ich all die vielen Möglichkeiten, Hoffnungen und Freuden, die das Leben bietet, loslassen müssen. Als Christ glaube ich, dass dieses Loslassen nicht das Aufhören aller Wege ist, sondern die Chance, endlich den Weg gehen zu dürfen, der mir die Perspektive eröffnet, „die eine kostbare Perle“ (vgl. Mt 13,46), Christus selbst, zu gewinnen.

Äbtissin Christiana Reemts, Abtei Mariendonk