Umgang mit der Zeit

Mit der Zeit ist es eine geheimnisvolle Sache: Niemand weiß genau, was Zeit ist, alle haben zu wenig, aber keiner weiß ganz genau, wie viel er hat.
Zeit ist unser Leben, sie ist die Möglichkeit, Dinge zu tun oder zu unterlassen. Zeit ist begrenzt und zwar so, dass niemand von uns weiß, ob ihm noch drei Tage, drei Jahre oder drei Jahrzehnte bleiben. Da das Ende nicht bekannt ist, heißt es in der christlichen Tradition immer wieder, man solle so leben, als ob jeder Tag der letzte wäre. So sagt zum Beispiel unser Ordensgründer, der heilige Benedikt, man solle den Tod täglich vor Augen haben (Benediktusregel 4,47). Damit ist nicht gemeint, man solle ständig in der Angst leben zu sterben, wohl aber, man solle immer und bei allem wissen, dass das Leben begrenzt ist.

Es gibt in unserem Leben einerseits den ruhigen Fluss des täglichen Einerlei oder auch Vielerlei, es gibt  andererseits die „Stunde der Entscheidung“, die man ergreifen oder verfehlen kann. Das heißt: Es kann in unserem Leben Dinge geben, für die es endgültig zu spät ist oder auch noch zu früh. Nicht alles ist zu jeder Zeit möglich. In der Bibel kommt das Verfehlen der rechten Zeit häufig vor: Esau wird als  Mensch beschrieben, der von Gott etwas geschenkt erhält, der die Gabe zurückweist und sie später, als  er sie will, nicht mehr bekommen kann (vgl. Gen 25,29-34; 27,1-40). Saul dagegen opfert zu früh und ohne göttliche Erlaubnis, auch er verfehlt die rechte Zeit (vgl. 1 Sam 13,1-14). Es wird in der Bibel deutlich, dass Gott allein die rechte Zeit weiß und dass wir Menschen uns oft in ihr irren: Abraham und Zacharias meinten, für ein Kind wäre es aufgrund ihres Alters zu spät; sie werden von Gott eines Besseren belehrt. Jeremia, der der Überzeugung ist, er sei zu jung, um als Prophet aufzutreten, wird trotzdem berufen. Auch im Leben Jesu spielt „seine Stunde“ eine große Rolle. So heißt es im Galaterbrief: „Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt“ (Gal 4,4). Und im Johannesevangelium sagt Jesus seiner Mutter, als kein Wein mehr da war: „Was willst du von mir, Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen“ (Joh 2,4).

In unserem Zeiterleben sind die drei Dimensionen Zukunft, Vergangenheit, Gegenwart wichtig. Zukunft ist das geistig vorweggenommene Ziel unseres Handelns, das uns Hoffnung gibt und uns motiviert. Vergangenheit ist das, was war und damit für immer unser Eigentum ist. Unsere Vergangenheit ist einerseits ein immer neuer Grund zu danken, denn was wir in ihr empfangen haben, ermöglicht uns heute zu leben. Das Vergangene kann uns niemand rauben, es ist jedem Zugriff entzogen, dem Zugriff und der Zerstörung durch andere, aber auch dem eigenen Zugriff: es ist nichts mehr zu ändern. Manchmal kann das auch bedrohlich sein, denn auch das Schlechte, die vertane Zeit, die verpatzten Chancen lassen sich nicht zurückholen. Die Gegenwart ist der reale Raum unseres Handelns, denn handeln können wir nur im Heute. Daher mahnt die Bibel immer wieder: “Heute, wenn ihr seine Stimme hört...” (vgl. Ps 95,7). Und im Vaterunser werden wir angewiesen, unser Brot für “heute” zu erbitten. Auch warnt der Jakobusbrief vor zu weitreichenden Plänen: “Ihr aber, die ihr sagt: Heute oder morgen werden wir in diese oder jene Stadt reisen, dort werden wir ein Jahr bleiben, Handel treiben und Gewinne machen -, ihr wißt doch nicht, was morgen mit eurem Leben sein wird. Rauch seid ihr, den man eine Weile sieht; dann verschwindet er. Ihr solltet lieber sagen: Wenn der Herr will, werden wir noch leben und dies oder jenes tun.” (Jak 4,13-15).

Das Neue Testament fordert uns auf, die Zeit zu nutzen (Kol 4,5), wach zu bleiben, überhaupt davon auszugehen, dass die Zeit kürzer ist als man denkt: „Eins steht auf jeden Fall fest, Brüder und Schwestern: Die Tage dieser Welt sind gezählt. Darum soll von nun an für die Verheirateten ihr Partner nicht das Wichtigste im Leben sein. Wer weint, soll sich nicht von seiner Trauer gefangen nehmen lassen und wer sich freut, lasse sich dadurch nicht vom Wesentlichen abbringen. Wenn ihr etwas kauft, betrachtet es als etwas, was ihr nicht behalten könnt. Verliert euch nicht an diese Welt, auch wenn ihr in ihr lebt, denn diese Welt mit allem was wir haben, wird bald vergehen“ (1 Kor 7,29).

Die Zeit unseres Lebens ist nach christlicher Überzeugung dazu da, um eine Entscheidung zu treffen. Es geht um Grundentscheidungen wie Partnerwahl, Berufswahl, die die Zeit in vorher und nachher einteilen, es geht aber auch um die alles umfassende Entscheidung: Gott ja oder nein, oder anders ausgedrückt: Will ich lieben oder mich in mich selbst verschließen? „Wir sind auf Erden, um in der uns gewährten Zeit "communial" - "gemeinschaftsfähig" zu werden und an der Communio-Werdung der Schöpfung mitzuarbeiten. So - als communiale Menschen Gott ähnlich - können wir dann auch in alle Ewigkeit am Leben des communialen Gottes teilhaben“ Zeit ist das Kostbarste, was wir haben, Leben. Man kann die Zeit verschenken oder zum Götzen machen. Der Glaube an Gott und an ein ewiges Leben ermöglicht ersteres. Denn gibt es angesichts der Hoffnung auf ein ewiges Leben bei Gott Versäumnisse außer dem Versäumnis, nicht zu lieben?

Äbtissin Christiana Reemts, Abtei Mariendonk