Aus dem Hymnus des Epiphanius (Ps-Epiphanius) v. Salamis zum Karsamstag

Erster Teil

So vernimm denn den geheimen Sinn des Leidens Christi. Vernimm und preise, vernimm und verherrliche, vernimm und verkünde die Großtaten Gottes: wie das Gesetz dahinschwand und die Gnade aufgeblüht ist, wie die Gleichnisse vergingen und die Schatten verzogen, wie die Sonne den Erdkreis erfüllt, wie das Alte veraltete und das Neue sich festigte, wie das Vergangene verging und das Neue zu blühen anfing.

Zwei Völker trafen sich zur Zeit des Leidens Christi auf dem Zion: das Volk der Juden und das der Heiden. Zwei Könige: Pilatus und Herodes, zwei Hohepriester: Annas und Kajaphas, auf dass zwei Osterfeste zugleich gefeiert würden: das eine zum letztenmal, das andere durch Christus zum erstenmal. Zwei Opfer wurden am gleichen Abend dargebracht, wie denn auch zwei Erlösungen sich vollzogen: die der Lebenden und die der Verstorbenen.

Und all dies geschah in Zion, der Stadt des großen Königs. Hier in der Mitte der Welt vollzog sich die Erlösung. Hier wurde Jesus „zwischen den beiden Lebenden”, d.h. zwischen dem Vater und dem Geist, als der Knecht Gottes erkannt, als Leben vom Leben, zwischen Engeln und Menschen in der Krippe geboren, zwischen den beiden Völkern als Eckstein gelagert, zwischen Gesetz und Propheten verkündet, zwischen Mose und Elija auf dem Berg sichtbar, zwischen den beiden Verbrechern für den guten Schächer als Gott erkennbar, zwischen dem gegenwärtigen und dem künftigen Leben als Richter eingesetzt, zwischen den Lebenden und den Toten am heutigen Tage der Wirker eines zweifachen Lebens und Heils.

Bei seiner ersten Geburt kam Christus nach vierzig Tagen in das irdische Jerusalem und in den Tempel, und er brachte als Erstgeborener Gott ein Paar Turteltauben als Opfer dar; nach seiner Auferstehung von den Toten aber stieg Christus nach vierzig Tagen in das obere Jerusalem auf, von dem er nie getrennt war, und in das wirkliche Allerheiligste, als der vom Tod unversehrte Erstgeborene, und brachte Gott dem Vater unseren Leib und unsere Seele wie zwei reine Turteltauben als Opfer dar. Wie einst Simeon ihn in seine Arme nahm, so nahm Gott der Vater, der Alte an Tagen, ihn ohne irgendeinen Vorbehalt in sein Herz auf. Wenn du dies nicht im Glauben aufnimmst sondern als geschwätzige Fabelei, klagen dich die unerbrochenen Siegel des Grabes Christi an, des Herrn der Wiedergeburt. Wie nämlich trotz der durch die Natur beigegebenen Siegel Christus aus der Jungfrau geboren wurde, indem die Verborgenheit des Schoßes der jungfräulichen Natur sich öffnete, so geschah die Wiedergeburt Christi, ohne dass die Siegel des Grabes aufgebrochen wurden.

Zweiter Teil

„Als der Abend herankam:” Es war nämlich spät, denn schon stieg die Sonne der Gerechtigkeit hinab in die Unterwelt. Deswegen „kam ein reicher Mann namens Josef von Arimathäa, der ein Jünger im Geheimen war aus Furcht vor den Juden. Es kam auch Nikodemus, der zu Jesus bei Nacht gekommen war” (Joh 19,38). O verborgenes Geheimnis der Geheimnisse: zwei verborgene Jünger kommen, um Jesus im Grab zu verbergen, das verborgene Mysterium in der Unterwelt: durch ihr eigenes Verborgensein lehren sie uns das Mysterium des verborgenen Gottes. Der eine übertrifft den anderen in seiner Liebe zu Christus. Nikodemus ist großzügig in Myrrhe und Aloe; Josef aber ist lobenswert wegen seines Mutes und seiner Zuversicht gegenüber Pilatus. Er hat nämlich alle Furcht abgelegt und Vertrauen gefasst, er ging zu Pilatus und erbat den Leichnam Jesu und handelte äußerst klug, damit er seinen Wunsch erreichte. Deshalb gebrauchte er Pilatus gegenüber keine stürmischen oder hochfahrenden Worte, damit nicht seine Bitte abgeschlagen würde, wenn jener in Zorn entbrennen würde. Auch nötigte er ihn nicht: Gib mir den Leichnam Jesu, der einst die Sonne verfinsterte, der Felsen spaltete, der die Erde erschütterte, der die Gräber öffnete und den Vorhang des Tempels zerriss. Nichts derartiges sagt er zu Pilatus.

Was also sagt er? Nur eine jammervolle und fast ärmliche Bitte: O Richter, ich bin gekommen, um etwas ganz Geringes von dir zu erbitten: Gib mir einen Toten zur Bestattung, den Leib jenes von dir verurteilten Jesus von Nazaret, jenes armen Jesus, jenes heimatlosen Jesus, jenes aufgehängten, nackten, wohlfeilen Jesus, des Jesus, der Sohn des Zimmermanns war, des gefangenen Jesus, des Jesus, der unter freiem Himmel lebte, des Fremdlings, des in der Fremde Unbekannten, des Vielverachteten, des für alle Hingerichteten. Gib mir diesen Fremdling, denn was nützt dir der Leib dieses Fremden? Gib mir diesen Fremdling, denn er kam von weit her, um den Fremden zu retten, er kam in diese Finsternis herab, um den Fremden heimzuführen. Gib mir diesen Fremdling, denn letztlich ist er der einzige Fremdling. Gib mir diesen Fremdling, dessen Heimat wir Fremdlinge nicht kennen, Gib mir diesen Fremdling, dessen Vater uns Fremdlingen unbekannt ist. Gib mir diesen Fremdling, von dem wir Fremdlinge weder Ort noch Herkunft noch Ziel kennen. Gib mir diesen Fremdling, der in der Fremde das Leben und die Lebensweise der Fremde ertrug. Gib mir diesen Fremdling aus Nazaret, dessen Herkunft und Lebensplan wir Fremdlinge nicht kennen. Gib mir den, der freiwillig ein Fremdling wurde und nichts hatte, wo er sein Haupt hinlegen konnte. Gib mir diesen Gast, der gleichsam wie ein Gast in der Herberge ohne eigenes Haus in einer Krippe lag. Gib mir diesen Fremdling, der wegen Herodes als Fremdling von dieser Krippe aus sich auf die Flucht begab. Gib mir diesen Fremdling, der von frühester Kindheit an in Ägypten als Gast weilte, der weder Stadt noch Dorf noch Haus noch Wohnung noch Verwandte hatte; er ist wirklich Fremdling in einer fremden Gegend.

Dritter Teil

 So wollen wir denn mit hinabsteigen. Wir wollen ihn geleiten, wollen den Lobgesang mit ihm feiern und uns beeilen, um den Bund Gottes mit den Menschen zu sehen und die Befreiung der Gefangenen durch den gütigen König. Der Menschenfreundliche geht nämlich in unsere Natur ein, um die, die schon lange gefangen sind, mit Kraft und großer Macht herauszuziehen; es sind die, die in den Gräbern liegen, welche der bittere und unersättliche Tod gewaltsam verschlungen hat, jener Tod, der die Gewaltherrschaft ausübt und Gott seine Beute abgenommen hat. Er hat sie zusammengebracht, die jener den himmlischen Bewohnern in Freiheit zurechnen wollte.

Dort ist Adam, der Urvater, gefangen, als der Erstgeborene tiefer unten als alle anderen Verurteilten. Dort ist auch der große Johannes, der größer ist als alle Propheten, der wie im dunklen Mutterschoß allen in der Unterwelt Christus verkündet, der doppelte Vorläufer und der Herold der Lebenden wie der Toten. Er wurde aus dem Kerker des Herodes in den allgemeinen Kerker des Volkes der Unterwelt versetzt.

Die Gerechten und Ungerechten aber, die schon lange entschlafen waren, besonders die Propheten und alle Gerechten brachten dort im Verborgenen und mystischerweise Gott beständig Gebete dar; sie erflehten Erlösung für alle, die von jenem Schmerz betroffen sind und von Trauer erfasst vor dem Feind, der schwarzen und auf immer finsteren Nacht. Und von den Propheten ruft einer: „Aus dem Schoß der Unterwelt vernimm mein Flehen, hör meine Stimme!” (vgl. Jon 2,3), und ein weiterer: „Lass dein Angesicht strahlen, und wir werden gerettet werden!” (Ps 31,17). Einer ruft: „Der du thronst über den Keruben, erscheine!” (Ps 80,2) und noch einer: „Aus dem Verderben komme mein Leben zu dir, Herr, mein Gott!” (vgl. Ijob 33,18).

 Da nun Christus, der gnädigste Gott, sie alle hörte, hielt er es für recht und billig, dass er nicht nur denen seine Barmherzigkeit zuwandte, die zu seiner Zeit oder nach ihm lebten, sondern auch denen, die schon vor seiner Ankunft in der Unterwelt festgehalten wurden und die in Finsternis und Todesschatten saßen. Daher besuchte das Wort Gottes in seinem beseelten Fleisch die mit Fleisch behafteten Menschen.

Vierter Teil

Lasst uns also im Geiste eilen und zur Unterwelt gehen um zu sehen, wie er dort den mit so großer Macht ausgestatteten starken Tyrannen überaus machtvoll besiegt hat.

 Wenn du daher schweigend Christus gefolgt bist, wirst du bald sehen, wo er den Tyrannen gefesselt und wo er sein Haupt aufgehängt hat; wie er den Kerker zerstört hat; wohin er die Gefangenen herausgeführt, auf welche Art er die Schlange zertreten und wo er ihren Kopf aufgehängt hat; wie er Adam in Freiheit gesetzt hat; wie er Eva auferweckte; auf welche Weise er die Scheidewand niederriss; wie er den wütenden Drachen verdammte, wie er unbesiegbare Siegeszeichen aufstellte, wo er den Tod mit dem Tod verwundete und auf welche Weise er das Verderben zugrunde richtete und den Menschen in seine frühere Würde wieder einsetzte.

 .Heute, da er Gott gleich ist, stieg er als Krieger und als Herr in die Unterwelt, zum Tod und zu dem, der durch den Tod zum Tyrannen wurde, zu den unsterblichen körperlosen Heerscharen, zu den nicht nur zwölf Legionen der unsichtbaren Scharen, vielmehr zu den zehntausend mal hunderttausend Engeln, Erzengeln, Herrschaften, Thronen und denen, die keinen Thron haben, zu den sechsfach Geflügelten und denen, die keine Flügel haben, zu den mit Augen übersäten und denen aus der himmlischen Schar, die keine Augen haben. Als ihren eigenen Herrn und König geleiten sie natürlich Christus mit feierlichem Prunk, umringen ihn in Scharen und kommen ihm mit der geschuldeten Ehre zuvor; nicht allerdings als Helfer: das sei ferne! Denn welchen Beistandes bedarf Christus, der Allherrscher? Sondern sie müssen Christus, ihrem Gott, in Liebe immer zur Seite stehen wie Waffenträger, die ihn begleiten, wie schwer Bewaffnete, die ihn schützen; wie strahlende und eifrige Träger des göttlichen, königlichen und herrscherlichen Zepters kommen sie auf einen Wink mit größter himmlischer Eile einander zuvor; gleichzeitig mit dem Befehl bringen sie den Auftrag zur Ausführung und sind als die Sieggekrönten Anführer gegen die Reihen der Feinde und Übeltäter. Deswegen kamen sie auch herab, um eilends mit ihrem Herrn und Gott in die Hölle der Unterwelt und in alle Tiefen der Erde hinabzusteigen, die der versteckte Wohnort der Toten sind, um die mit Kraft herauszuführen, die schon lange in Fesseln gehalten wurden.

PG 43,440-464 Übersetzung: Sr. Gregoria Peiker, Abtei Mariendonk