Jakobs Traum

© Sieger Köder Jakobs Traum


«In der Wirklichkeit Gottes Umarmung entdecken». Ignatius v. Loyola

 

„Wo ist Gott?“ Diese Frage drängt sich auf, wenn wir die Nachrichten von Terror, Gewalt, Krieg, vom Flüchtlingselend oder von Naturkatastrophen hören.
„Wo ist Gott?“ Diese Frage stellt sich auch uns persönlich, wenn wir mit Schicksalsschlägen konfrontiert werden. Wenn wir die Diagnose einer unheilbaren Krankheit erhalten, wenn Beziehungen zerbrechen, wenn wir am Arbeitsplatz überfordert sind. Und und ..
Wo ist Gott?

Diese Frage quälte bestimmt auch Jakob. Im Abschnitt der Lesung, die wir soeben gehört haben, ist diese bedrängende Frage zwar nicht ausgesprochen. Aber sie liegt im Raum.
Jakob ist auf der Flucht. Er flieht vor seinem Bruder, den er betrogen hat. Seine familiäre Situation wurde für ihn unerträglich, ja es war für ihn buchstäblich zum Davonlaufen. Und so macht er sich auf und davon.

„Er zog aus Berscheba weg und ging nach Haran.“ So der nüchterne einleitende Satz der heutigen Lesung aus dem Buch Genesis.

Und in dieser ausweglosen Situation macht Jakob eine tiefe, unerwartete Gotteserfahrung. Er hatte einen Traum.
Jakob hatte diesen Traum von der Himmelsleiter nicht in einem Moment von Glück und Hochgefühl, sondern an einem Tiefpunkt seines Lebens. Aber diese Nacht wurde für ihn zum Einfallstor für eine prägende Gottesbegegnung.

Wir sehen auf diesem Bild, es ist dunkel. Denn die Sonne ist untergegangen. Jakob ist müde, lebensmüde. Er ist einsam und allein in dieser öden Landschaft. Kein grün von Lebenskraft, keine blühenden Blumen sind zu sehen. Nur karger brauner Steinboden.

„Er nahm einen von den Steinen dieses Ortes, legte ihn unter seinen Kopf und schlief dort ein. Da hatte er einen Traum: Er sah eine Treppe, die auf der Erde stand und bis zum Himmel reichte. Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nieder.“ (12).

Auf dem Bild von Sieger Köder sind keine Engel sichtbar. Dafür malt der Künstler grosse Hände, die von unten nach oben und von oben nach unten reichen. Schauen wir uns diese Hände an!

Diese Hände sind offen und bilden einen schützenden Raum links und rechts der Treppe. Durch diesen Raum fliesst Licht. Hier bündelt sich die Kraft. Dies ist angedeutet in den Flammen oder Knospen, die zwischen den Stufen emporsteigen. Ein Bild für den Heiligen Geist?

«Und siehe, der Herr stand oben und sprach: Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham und der Gott Isaaks. Das Land, auf dem du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Deine Nachkommen werden zahlreich sein wie der Staub auf der Erde. Du wirst dich unaufhaltsam ausbreiten nach Westen und Osten, nach Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen werden alle Geschlechter der Erde Segen erlangen. Ich bin mit dir, ich behüte dich, wohin du auch gehst, und bringe dich zurück in dieses Land. Denn ich verlasse dich nicht, bis ich vollbringe, was ich dir versprochen habe.» (Gen 28,13-15).

Unser Ordensvater, der heilige Benedikt, gibt uns dieses Bild von Jakobs Traum als Werkzeug mit auf den Weg der Gottsuche. Im Kapitel sieben seiner Regel beschreibt Benedikt in Anlehnung an die Himmelsleiter die zwölf Stufen der Demut. Ziel dieses Weges ist es Gott zu finden, ihm näher zu kommen.

Demut – humilitas bezeichnet, das was dem Boden (humus) nahe ist. Oder auch was solid geerdet ist. Wir kennen auch die Redewendung «Auf den Boden kommen». Wir verwenden diese Worte, wenn jemand von einem «Höhenflug» wieder zur Realität des Alltags zurückgeholt wird.

Das Bild von Sieger Köder zeigt anschaulich, wie Jakob dem Boden nahe ist. Rund um ihn herum ist es dunkel. Jakob ist müde und nimmt einen der Steine und legt diesen unter seinen Kopf. Er liegt auf der Erde. Er ist solid geerdet. Seine linke Hand stützt den Kopf, so dass sein Blick – auch wenn die Augen geschlossen sind – nach oben gerichtet ist. Geerdet und mit einem wachen inneren Blick des Herzens hatte er diesen Traum von der Himmelsleiter.  

Bleiben wir noch bei der Demut. «Demut» bedeutet nicht Schwäche. Demütig ist nicht, wer sich klein macht. Demütig ist der Mensch der Seligpreisungen. Die Bergpredigt, dieser beglückende Ruf Gottes: «Selig seid ihr!» soll uns durch Leib und Seele fahren, also den ganzen Menschen treffen.
Die Seligpreisungen sind Zusagen Gottes an uns Menschen. Selig ist, wer Gottes Nähe, Gottes Umarmung erfährt.

Schauen wir uns das Bild von Jakobs Traum nochmals an. Wir sehen die Dunkelheit. Das tiefe Blau der Treppe und die bergenden Hände, die Flammen und Knospen. Jakob, wie er in dieser Einsamkeit auf dem kargen Boden liegt. Wie er mit geschlossenen Augen der Stimme von oben lauscht.
In diese Situation hinein wollen wir die Worte der Bergpredigt aus dem Matthäus Evangelium hören:

Selig, die arm sind vor Gott,
denn ihnen gehört das Himmelreich.

Selig, die Trauernden,
denn sie werden getröstet werden.

Selig, die keine Gewalt anwenden,
denn sie werden das Land erben.

Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit,
denn sie werden satt werden.

Selig, die Barmherzigen,
denn sie werden Erbarmen finden.

Selig, die ein reines Herz haben,
denn sie werden Gott schauen.

Selig die Frieden stiften,
denn sie werden Kinder Gottes genannt werden.

Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden,
denn ihnen gehört das Himmelreich.

Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt werdet, und auf alle mögliche Weise verleumdet werdet.
Freut euch und jubelt: Euer Lohn im Himmel wird gross sein.


In allem, was das Leben uns zumutet, können wir Gottes be-glückenden Ruf hören, seine Umarmung entdecken. Aber oft erkennen wir Gottes Gegenwart erst rückblickend. So auch Jakob: «Und Jakob erwachte aus seinem Schlaf und sagte: Wirklich, der Herr ist an diesem Ort und ich wusste es nicht.» (16).

«Furcht überkam ihn und er sagte: Wie ehrfurchtgebietend ist doch dieser Ort! Hier ist nichts anderes als das Haus Gottes und das Tor des Himmels!» (17)

Der Ausdruck «Furcht» klingt in unseren Ohren heute negativ. Diesen Klang hatte er in der frühen Kirche und im alten Mönchtum jedoch nicht. Furcht meint vielmehr, dass ein Mensch betroffen die Nähe und Herrlichkeit Gottes erfährt. Wenn Gottes Gegenwart einen Menschen tief berührt. Und diese Erfahrung bedrückt nicht, sondern befreit von Angst und schenkt das Gefühl von Angenommen-sein und Glückseligkeit.
Lassen wir uns von Gottes Gegenwart überraschen und versuchen wir «In der Wirklichkeit seine Umarmung zu entdecken».

Priorin Irene Gassmann, Kloster Fahr